Gehirnforschung: Unter der Bezeichnung Neuromarketing versucht eine noch sehr junge Wissenschaft dem Geheimnis des Konsumverhaltens auf die Spur zu kommen.
Gehirnforschung: Unter der Bezeichnung Neuromarketing versucht eine noch sehr junge Wissenschaft dem Geheimnis des Konsumverhaltens auf die Spur zu kommen.

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Gehirnforschung: Neuromarketing

9 Min.

Neuromarketing: Neurowissenschaftliche Erkenntnisse der Gehirnforschung über die Steuerung unseres Konsumverhaltens

In Deutschland investieren Unternehmen derzeit jährlich rund 80 Milliarden Euro in Werbung. Weltweit umfasst Werbung sogar eine halbe Billion. Ein einziger Fernsehspot zur besten Sendezeit kann mehr als 100.000 Euro kosten, und mit einer ganzseitigen Werbeanzeige in einer Zeitschrift kommt man schnell auf 50.000 Euro und mehr. Ein gigantischer Aufwand, der nur ein einziges Ziel verfolgt: den potentiellen Verbraucher für sich und seine Produkte bzw. Dienstleistungen zu gewinnen.

Unter der Bezeichnung Neuromarketing versucht eine noch sehr junge Wissenschaft dem Geheimnis des Konsumverhaltens auf die Spur zu kommen. Aber ist Neuromarketing wirklich die neue Geheimwaffe der Produktanbieter, die den Konsumenten zu einem willenlosen Opfer macht?

Das Interesse an Neuromarketing ist groß

Was die Gehirnforschung in den letzten zehn Jahren herausgefunden hat, ist mehr als in den letzten hundert Jahren zusammen, und das Interesse an neuen Erkenntnissen nimmt weiterhin zu.

Bei Probanden werden unter einem Gehirnscanner die Gehirnströme gemessen, während sie einen virtuellen Einkaufsbummel erleben.

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Die Medien sind voll von schönen bunten Gehirnbildern, und wenn man den Begriff “Neuromarketing” in Google eingibt, so erscheinen derzeit über 340.000 Treffer. Warum aber ist das Interesse an den Erkenntnissen der Gehirnforschung so groß?

Nun, der Grund ist, dass die klassischen Erhebungsmethoden der Marktforschung an ihre Grenzen stoßen. So gibt z. B. eine Befragung nur Auskunft darüber, was der Befragte bewusst wahrgenommen hat. Viele Werbebotschaften wirken aber unbewusst und können daher von den Befragten sprachlich nicht wiedergegeben werden.

Diese Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der derzeitigen Marktforschungsinstrumente und die hohen Fehlinvestitionen in Werbemaßnahmen sind daher die Hauptgründe, warum sich Marketing- und Werbefachleute in der ganzen Welt für das Thema Neuromarketing interessieren.

Der Aufbau des menschlichen Gehirns

Um die Erkenntnisse der Gehirnforschung im Hinblick auf unser Konsumverhalten bzw. unsere Kaufentscheidungen besser zu verstehen, schauen wir uns zunächst einmal den funktionellen Aufbau des menschlichen Gehirns etwas näher an. Dies ist deswegen so wichtig, weil wir herausfinden wollen, wie bestimmte Funktionen unseres Gehirns wirken. Und um das herauszufinden, müssen wir wissen, wo die einzelnen Funktionen angesiedelt sind.

Im Großen und Ganzen lässt sich unser Gehirn zunächst einmal in zwei Teilsysteme untergliedern:

  1. das kognitive System zur Verarbeitung von Infor-mationen, also der Cortex.
  2. das emotionale System zur Verarbeitung von Gefühlen, also das limbische System.
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Diese beiden Systeme können aber nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, da man inzwischen in den Strukturen des emotionalen Systems starke Verbindungen zu Arealen des kognitiven Systems nachweisen konnte, insbesondere Verbindungen zu Teilen des Hypothalamus, des Thalamus und der Großhirnrinde.

Ausgangspunkt des emotionalen Systems ist der Hirnstamm. Er integriert die Außen- und Inneninformationen des Körpers zu einem Gesamtbild und ist an der Aufrechterhaltung unseres emotionalen und physiologischen Gleichgewichts beteiligt.

Eine wichtige Schnittstelle zwischen dem emotionalen und dem kognitiven System ist der Gyrus Cinguli. Er wird bei Emotions- und Motivkonflikten aktiviert.

Ebenfalls Bestandteil des emotionalen Systems ist die Amygdala. Sie ist durch Nervenbahnen mit dem Hippocampus verbunden.

Beide zusammen, also Amygdala und Hippocampus sind für die erstmalige Registrierung, die Verarbeitung und den Transfer emotionaler Informationen in das Langzeitgedächtnis zuständig.

Im vorderen Stirnhirn befindet sich der orbitofrontale Cortex. In diesem Areal laufen die Motiv- und Emotionssysteme zusammen.

Außerdem ist der orbitofrontale Cortex für die Speicherung emotionaler Erfahrungen zuständig.

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Eine weitere wichtige Aufgabe übernehmen die Schläfenlappen. Sie verarbeiten die Bedeutung von Sinneseindrücken und fügen sie zu einem Gesamtbild zusammen.

Und last but not least spielen für unsere Überlegungen der Thalamus und der Hypothalamus eine wichtige Rolle. Im Thalamus werden eingehende Informationen unserer Sinnesorgane verarbeitet. Und der Hypothalamus übt eine strenge Kontrolle über viele Körperfunktionen aus. In Verbindung mit der Hypophyse, also der Hirnanhangdrüse bildet er das wichtigste Kontrollsystem unserer Gefühle.

Wir sehen also, wie eng und vielschichtig die Funktionen unseres Gehirns verbunden sind. Und was nützt uns diese Erkenntnis für die Marktforschung?

Eine der wichtigsten Erkenntnisse für die Marktforschung ist folgende: Es gibt keine rationalen Entscheidungen ohne die Beteiligung emotionaler Prozesse!

Die Macht des Unbewussten

In jeder Sekunde werden über unsere fünf Sinne, also Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken, unserem Gehirn Informationen im Umfang von ca. 11 Millionen Bits gesendet und dort verarbeitet. Unser Bewusstsein kann aber pro Sekunde nur ca. 40 Bits verarbeiten. Das sind gerade einmal 0,0004%. 99,9996% der Informationen, die unser Gehirn erhält, werden daher unbewusst verarbeitet. Und dafür gibt es auch einen sehr guten Grund: Von der Energie, die unser Körper verbraucht, werden rund 20% alleine von unserem Gehirn benötigt. Und da unser Gehirn mit dieser verfügbaren Energie sparsam umgehen möchte, ist es das Ziel, möglichst viele Aufgaben unbewusst ablaufen zu lassen.

Denken Sie einmal an Ihre erste Fahrstunde und wie anstrengend das war, weil Sie beim Start des Autos noch jeden Handgriff bewusst durchführen mussten, und wie routiniert, also energiesparend, Sie heute losfahren. Unbewusste Vorgänge erfordern einen viel geringeren Energieverbrauch als bewusste Vorgänge!

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Wenn also 99,9996% der Signale, die auf unser Gehirn einwirken, unbewusst verarbeitet werden, dann wird auch deutlich, warum Werbe- und Marketingexperten mit den Ergebnissen der klassischen Marktforschung wie z.B. Befragungen sehr unzufrieden sind.

Die Antworten der Befragten basieren größten Teils auf den bewusst wahrgenommenen Eindrücken.

Diese haben aber nur einen Anteil von 0,0004% an unseren Kaufentscheidungen. Die große Chance der Marketingkommunikation besteht also darin, Strategien zu entwickeln, mit denen man den unbewussten Teil des Gehirns anspricht.

Halt, werden Sie jetzt vielleicht denken, ist das dann nicht Manipulation pur? Sind das nicht Überlegungen, die mich zu einem willenlosen und fremdgesteuerten Wesen machen? Die Antwort ist “Nein”, denn sowohl der bewusste Anteil als auch der weitaus größere unbewusste Anteil sind Bestandteile unserer individuellen Persönlichkeit. Und jeder Mensch verfügt über eine ganze Reihe unbewusster Wünsche und Motive, die sich meist schon in der frühen Kindheit während der Persönlichkeitsentwicklung gebildet haben. Sie brauchen also keine Angst zu haben, dass Sie ein Produkt kaufen, das nicht Ihre eigenen unbewussten Wünsche und Motive anspricht – da kann die Werbung anstellen, was sie will. Wie stark unser unbewusster Anteil wirkt und wie sich das auch in unserem Verhalten äußert, haben viele Studien eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Unser Gehirn ist ein soziales Organ

Wir haben erfahren, wie wichtig es ist, die unbewussten Ziele und Motive anzusprechen, damit Werbebotschaften ankommen. Was aber sind die unbewussten Wünsche und Motive? Da jeder Mensch ein Individuum ist, sind auch seine unbewussten Wünsche und Motive sehr individuell. Dennoch gibt es einige Wünsche und Motive, die für alle Menschen gleich sind. Der Mensch ist ein Herdentier. Sein Überleben hängt nicht nur davon ab, dass er seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlafen oder Fortpflanzung befriedigt. Er ist auch nicht nur auf das eigene Überleben aus, indem er schnell dem Säbelzahntiger entkommt. Er ist vor allem auf das Überleben in und mit seiner Herde ausgerichtet. Unser Überleben hängt also sehr stark davon ab, wie gut wir darin sind, uns in ein soziales Netz zu integrieren.

Schon vor vielen Jahren fand man heraus, dass Kinder in Krankenhäusern, die keinen Kontakt zu einer Bezugsperson hatten, psychisch krank wurden. Wenn Mitarbeiter in einem Unternehmen ausgegrenzt werden, entstehen Ängste und Depressionen. Soziale Missachtung führt sogar dazu, dass in unserem Gehirn die gleichen Areale aktiviert werden, wie wenn man jemandem aktiv körperlichen Schmerz zufügt. Bei der Suche nach der Antwort auf die eingangs gestellte Frage: “Wie wird Werbung kommuniziert?” ist spätestens jetzt klar: Eine der wichtigsten Voraussetzungen für erfolgreiche Vermarktungsstrategien ist die Berücksichtigung des Menschen als soziales Wesen!

Wie man Kunden motiviert

Auf die Frage, wie man Motive in die Köpfe der Kunden bringt, antwortete der bekannte Hirnforscher Prof. Dr. Manfred Spitzer: “Die Frage danach, wie man Menschen motiviert, ist etwa so sinnvoll wie die Frage ´Wie erzeugt man Hunger?` Die einzige vernünftige Antwort lautet: ´Gar nicht, er stellt sich von alleine ein`”.

Das Gehirn trägt also die Motive, die zu einer Kaufentscheidung führen, bereits in sich – die Motive können nicht von außen hineingebracht werden. Werbung in all ihren Formen sollte daher das Ziel verfolgen, Produkte und Dienstleistungen an die bestehenden Motive und Bedürfnisse anzuknüpfen. Gelingt dies, ist die Chance auf Erfolg groß. Gelingt dies nicht, scheitert das Produkt! Dies lässt sich inzwischen auch sehr schön neurowissenschaftlich beweisen. Präsentiert man Probanden eine attraktive Marke, so wird im Gehirn der Nucleus Accumbens, den man auch als “Lustkern” bezeichnet, besonders aktiv. Ein weiterer Effekt ist, dass das Gehirn bei der Präsentation von attraktiven Marken mit einem hohen Bekanntheitsgrad auf Automatik schaltet und somit keine Energie für Denken verschwendet.

Die wichtigste Funktion eines Produktes ist aber, dass es mit Emotionen geladen ist. Beispielsweise mit einem Geborgenheitsgefühl, wodurch das Balance- oder Sicherheitssystem aktiviert wird. Oder mit einem Genussversprechen, wodurch das Stimulanz- oder Erregungssystem angesprochen wird. Oder aber auch mit einem Statusgefühl, welches das Dominanz- oder Autonomiesystem anspricht. Der Effekt ist, dass in unserem Gehirn Lernvorgänge stattfinden, die nach einem relativ einfachen Prinzip ablaufen:

Wenn Reize von außen, also z. B. Werbung in Form von Bildern, Sprache oder Geräuschen auf uns wirken und dabei die eben erwähnten Emotionen auftreten, werden diese miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung erfolgt im Hippocampus, und die Amygdala im limbischen System, also unser emotionales Bewertungszentrum entscheidet darüber, ob der Gesamteindruck von uns als gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm oder als positiv oder negativ empfunden wird.

Wird der Gesamteindruck als gut oder positiv bewertet, entsteht der Wunsch nach Wiederholung. Wird der Gesamteindruck als schlecht oder negativ bewertet, entsteht der Wunsch nach Vermeidung. Der Gesamteindruck wird aber auch vom Hippocampus an den Neocortex geleitet, wo dann tausende von Neuronen aktiviert und vernetzt werden. Dabei werden die optischen Elemente einer Marke in den hinteren Cortexarealen abgespeichert, z. B. im parietalen Cortex. Akustische Signale wie z. B. ein Jingle werden im seitlichen, temporalen Cortex abgelegt, und die emotionalen Elemente werden im vorderen, dem orbitofrontalen Cortex abgelegt.

Ein Markenbild besteht also aus Verknüpfungen von Nervenzellen, die im Gehirn ein weit gefächertes Netzwerk ergeben.

Eine Marke wird also in Form eines neuronalen Musters hinterlegt, und je häufiger eine Marke oder ein Produkt präsentiert wird, desto stärker werden die Verbindungen im Netzwerk der Neuronen und desto schneller können sie aktiviert, also abgerufen werden.

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Bis hierher haben wir viele Aspekte kennen gelernt, die unser Kaufverhalten beeinflussen, und wir haben erfahren, was dabei in unserem Gehirn geschieht. Es gibt aber noch weitere Fragen, die es zu klären gilt, damit wir verstehen, wie wir Kaufentscheidungen treffen. Zu diesen Fragen zählen z. B. folgende:

Warum laufen Kaufentscheidungen bei Frauen völlig anders als bei Männern? Wie verändern sich unsere Motive und Kaufentscheidungen bei zunehmendem Alter? Worauf muss man achten, damit man bei der Werbung für das eigene Produkt die Zielgruppe nicht der Konkurrenz zuspielt? Wie wirken Farben, Musik und Gerüche auf unser Kaufverhalten? Die Antworten auf diese und andere Fragen finden Sie im Teil 2.

Quelle Bilder & Text: AFNB – Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement

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Kommentare

2 Kommentare zu „Gehirnforschung: Neuromarketing“

  1. Immer noch sehr unterschätzt und doch so wirkungsvoll. Wer Neuromarketing nutzt hat (noch) einen enormen Wettbewerbsvorteil. Wer es gezielt anwendet, kann unterbewusste Wahrnehmungs- und Verhaltensprozesse bewusst zu steuern. Wir sehen immer wieder, dass stattdessen lieber nach dem nächsten Online-Marketing-Hype geschaut wird anstatt seine eigenen Botschaften marketingpsychologisch zu optimieren. Verschenktes Potenzial!

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