In Fortbildungen beschäftigen sich (angehende) Führungskräfte mit Instrumenten der Mitarbeiterführung und dem eigenen Führungsstil. Das geht leider oft am eigentlichen Thema vorbei!
Zu den aktuellen Themen gehören die Etablierung flacher Hierarchien und die damit verbundenen “Empowerment“-Konzepte: Befähigung und Übertragung von Verantwortung und Entscheidungsbefugnissen an die Mitarbeiter mit dem Ziel, deren Motivation und Fähigkeiten zu stärken.
Kritische Beobachter weisen darauf hin, dass solche Unternehmungen zwar vielerorts auf dem Papier existieren, in der gelebten Realität aber viel, viel seltener gelingen, als man es wahrhaben will.
Die einen führen dies darauf zurück, dass das Vorhaben – bei erfolgreicher Umsetzung – die Führungskräfte überflüssig machen würde und ihnen daher verständlicherweise die Motivation fehle, aktiv zu ihrer eigenen Überflüssigmachung beizutragen.
Andere sehen den Grund eher darin, dass viele Mitarbeiter “Führung” brauchen und aktiv nachfragen:
- Die Arbeitnehmer von heute wollen motiviert werden.
- Sie wünschen sich einen Arbeitgeber, der ihnen eine individuelle Work-Life-Balance ermöglicht.
- Sie wollen entsprechend ihrer erkannten Talente und Bedürfnisse eingesetzt werden.
- Und sie wollen Entwicklungspotenziale aufgezeigt bekommen.
So ist es nicht verwunderlich, dass man auf dem Markt – so weit das Auge reicht – auf entsprechende Weiterbildungsangebote stößt: In Seminaren, Workshops und Trainings sollen (angehende) Führungskräfte die Grundlagen der Führung, Teambildung und die dazugehörigen Tools kennen lernen und sich mit dem eigenen Führungsstil auseinandersetzen.
Der Führungsstil
Das Thema Führungsstil spielt dabei natürlich eine große Rolle. Ein Thema, das immer wieder zu heftigen Diskussionen führt.
Man kann wohl sagen, dass der demokratische Führungsstil am ehesten dem Zeitgeist entspricht.
Diejenigen, die einen hierarchischen Führungsstil bevorzugen – und es gibt immer noch eine beträchtliche Zahl von ihnen –, geraten dadurch unter Rechtfertigungsdruck.
Und beide Seiten sind sich wahrscheinlich schnell einig, dass ein Laissez-faire-Führungsstil keine echte Führung ist, sondern eher das Fehlen von Führung verdeutlicht.
Aber all diese Diskussionen gehen meines Erachtens meist am eigentlichen Thema vorbei!
Das eigentliche Thema erklärt auch, warum die Etablierung von flachen Hierarchien mit eigenverantwortlichen Mitarbeitern oft nicht funktioniert. Beide Erklärungsmodelle beschreiben das beobachtbare Symptom, nicht aber die verborgene Ursache.
Um Ihnen erklären zu können, was ich meine, führe ich ganz kurz drei Begriffe aus der Transaktionsanalyse ein. Die Transaktionsanalyse ist ein psychologisches Modell, das unter anderem die sozialen Beziehungen zwischen Menschen beobachtet und beschreibt. Sie wurde in den 50er Jahren von dem amerikanischen Psychologen Eric Berne entwickelt.
Eltern-Ich, Kind-Ich, Erwachsenen-Ich
Nach diesem Modell wechseln wir – unabhängig von unserem Alter – zwischen drei Verhaltensweisen hin und her, die in der Psychologie als “Ich-Zustände” bezeichnet werden.
Eltern-Ich
Die Beziehung zu unseren Eltern ist die allererste Beziehung, die uns als Kleinkind nachhaltig prägt.
Wenn wir uns also in unserem Eltern-Ich befinden, verwenden wir – meist unbewusst – die Verhaltensmuster unserer Eltern, die wir als Kleinkind beobachtet/erlebt und in der Folge unreflektiert gespeichert haben.
So verhalten wir uns anderen gegenüber herablassend und zurechtweisend. Oder wir empfinden eine Fürsorgepflicht oder Verantwortung für andere und wollen sie deshalb beschützen oder vor Schaden bewahren.
In diesem Zustand kommunizieren wir nicht auf Augenhöhe mit dem anderen. Vielmehr blicken wir – sinnbildlich gesprochen – auf ihn herab.
Kind-Ich
Wenn wir uns in unserem Kind-Ich befinden, wenden wir – meist unbewusst – die Verhaltensmuster an, die wir als Kleinkind verinnerlicht haben.
Wir reagieren z. B. trotzig, wenn uns das fordernde Verhalten des anderen unbewusst an das Verhalten unserer Eltern erinnert.
Und wir fallen zurück in Verhaltensmuster, die wir uns als unsicheres und schutzbedürftiges Kleinkind angeeignet haben, weil sie Erfolg versprachen: So konnten wir uns die Aufmerksamkeit, Zuwendung und Fürsorge unserer Eltern sichern.
In diesem Zustand kommunizieren wir natürlich auch nicht auf Augenhöhe. Vielmehr schauen wir hilfesuchend und orientierungsbedürftig zum anderen auf.
Erwachsenen-Ich
In unserem Erwachsenen-Ich sind wir uns bewusst, wie wir handeln und welche Handlungsoptionen wir haben.
In diesem Zustand treffen wir bewusste und rationale Entscheidungen – entweder aktiv etwas zu verändern …
… oder passiv etwas zu ertragen und auszuhalten.
In diesem Ich-Zustand neigen wir dazu, objektiv zu sein und konstruktiv zu denken. In diesem Ich-Zustand kommunizieren wir auf Augenhöhe mit anderen.
Unser Selbstbild ist natürlich, dass wir Großteiles in unserem Erwachsenen-Ich unterwegs sind. Das sind immer nur die anderen, die sich sonderbar verhalten.
Intermezzo: Was bedeutet Kommunikation “auf Augenhöhe”?
Der Begriff “auf Augenhöhe” wird heute inflationär verwendet. Oft schwingt zwischen den Zeilen mit, dass damit eine Gleichmacherei, ein Abbau von Hierarchien oder Ähnliches gemeint ist. Es erscheint daher notwendig, eine Begriffsklärung einzufügen, denn das ist mit Sicherheit nicht gemeint.
Die Kommunikation mit einem Mitarbeiter auf Augenhöhe setzt voraus, dass sich die Führungskraft ihrer Position, ihrer Erfahrungen und ihres Wissens bewusst ist. Sie glaubt aber nicht, im Besitz der alleinigen und allgemeingültigen Wahrheit zu sein. Deshalb hört sie im Gespräch aufmerksam und respektvoll zu. Sie versucht nicht, den Mitarbeiter zu dominieren oder zu unterdrücken, indem sie ihm ihre eigene Meinung aufzwingt.
Sie ist vielmehr daran interessiert zu erfahren, was ihr Mitarbeiter denkt. Sie ist daran interessiert zu erfahren, ob er eine andere Perspektive und einen anderen Lösungsansatz empfiehlt. Sie versucht, sich in den Mitarbeiter hineinzuversetzen, um gegebenenfalls eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden.
Führungsstil: Mitarbeiter im Kind-Ich trifft auf Boss in seinem Eltern-Ich
Als aufmerksamer Beobachter wird Ihnen leicht auffallen, dass viele Mitarbeiter in Unternehmen – unabhängig von ihrer hierarchischen Position – erschreckend oft aus ihrem Kind-Ich heraus agieren. Überspitzt dargestellt:
- “Er hat ein Eckbüro mit drei Fenstern bekommen und ich nicht. Der Blödmann, ich hasse ihn!” *streckt die Zunge heraus
- “Schau mal Chef, wie toll ich alle Stifte im Büro nach Farbe und Größe sortiert habe.” *wartet mit glänzenden Augen auf Lob
- “Mäh, unser neues CRM-System ist doof, ich will da keine Daten eingeben. Ich will nicht, ich will nicht.” *stampft mit den Füßen
Und wenn Sie sich bewusst umschauen, werden Sie feststellen, dass ein Großteil der Führungskräfte in Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern in der Regel aus ihrem Eltern-Ich heraus agieren und argumentieren.
Und das ist unabhängig vom Führungsstil!
Nehmen wir als Beispiel einen Manager mit einem eher konservativen Führungsstil:
- “Als Chef führe ich meine Mitarbeitenden konsequent und sorge für klare Strukturen, in denen Verantwortung und Aufgaben klar verteilt sind und es klare Regeln gibt.”
Demgegenüber nehmen wir diesen Leiter mit einem eher zeitgeistkonformen Führungsstil:
- “Ich möchte, dass sich meine Mitarbeiter in ihrer Arbeit verwirklichen können. Außerdem achte ich darauf, dass sie gesund arbeiten, denn schließlich habe ich ihnen gegenüber eine Fürsorgepflicht.
Wie Sie hoffentlich erkennen können: Beide Aussagen stammen aus dem Eltern-Ich!
- Ersteres entspricht der Haltung des Elternteils, der dem Kind sagt, wann es spätestens abends zu Hause sein muss, oder es andernfalls mit Hausarrest bestraft.
- Letzteres ist die Haltung des Elternteils, der dem Kind bei den Hausaufgaben hilft und dafür sorgt, dass es sich warm anzieht, bevor es das Haus verlässt.
Der Hauptgrund, warum flache Hierarchien nicht funktionieren oder Projekte aufgrund der Blockadehaltung der Mitarbeiter nicht erfolgreich umgesetzt werden können, oder, oder, …
… ist m. E. der, dass Menschen in Unternehmen sich nicht in ihrem Erwachsenen-Ich begegnen – vor allem dann nicht, wenn sie unter “Change”-Stress stehen.
Und daran wird sich auch nichts ändern, solange die Führungskräfte weiterhin die Eltern-Ich-Position einnehmen und damit die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen, dass ihre Mitarbeiter sich in ihrem Kind-Ich wiederfinden bzw. sich dort wohl und zu Hause fühlen.
Die Besetzung des Eltern-Ichs durch den Arbeitgeber ist systemimmanent
Die Besetzung des Eltern-Ichs durch den Arbeitgeber ist weitaus vielschichtiger und tiefer in der betrieblichen Realität verankert, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ein plakatives Beispiel soll dies verdeutlichen:
Sie haben in der Vergangenheit bei Ihrem Büromateriallieferanten eine Bestellung mit folgendem Inhalt aufgegeben: “Kugelschreiber Marke ‘Manager’ – Schreibfarbe rot – Artikel-Nr. 12345 – Menge: 10 – Einzelpreis 2,35 – Gesamtpreis 23,50 – Liefertermin in 2 Tagen”.
- Würden Sie bei Ihrem Lieferanten damit durchkommen, wenn Sie künftig “Markierstifte in bewährter Farbe und ausreichender Menge” bestellen und dann noch “einen guten Preis und eine enthusiastische Lieferung” verlangen? Und vielleicht noch hinzufügen: “Ich bin nur an Ergebnissen interessiert. Wenn Sie das nicht schaffen, sind Sie nicht motiviert genug”?
- Und kämen Sie auf die Idee, ganz selbstverständlich zu sagen: “Ich weiß, wir haben einen Vertrag mit Ihnen als Büromateriallieferant, aber wir haben gerade ein Lieferproblem mit Produktionsmaterialien. Sie sind doch sicher flexibel und es macht Ihnen doch nichts aus, uns ab sofort mit Produktionsmaterialien zu beliefern, oder?”.
Denn im übertragenen Sinne geschieht genau das in gefühlten 99,9 % aller impliziten oder expliziten Arbeitsanweisungen.
Und diese Haltung zeigt sich bereits in den Stellenausschreibungen.
Diese sind eine Ansammlung von sich teilweise widersprechenden Attributen und Talenten, garniert mit Buzzwords und Allgemeinplätzen:
Wir suchen eine genetische Mutation von Superman, Batman und Wonder Woman, die “engagiert”, “teamfähig”, “motiviert”, … ist.
Dass man damit durchkommt, liegt daran, dass man bereits hier (unbewusst?) die Boss-Karte ausspielt und das herrschende Hierarchiegefälle unterstreicht. Getreu dem Motto: Ich darf alles verlangen, egal wie unsinnig oder ungerecht es ist, denn ich bin der zukünftige Chef und werde das Sagen haben.
Kind, solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst…
Der erste Spielzug zur Eröffnung des Spiels “Eltern-Ich trifft auf Kind-Ich” geht vom Arbeitgeber aus.
Mitarbeiterführung aus der Erwachsenen-Ich-Perspektive betrachtet
Begegnet man sich im Erwachsenen-Ich, so schließt man auf Augenhöhe einen Leistungsvertrag gegen Geld mit einem Erwachsenen, der kraft seiner privatautonomen Selbstbestimmung Verpflichtungen eingeht.
Die Leistungen des Arbeitgebers sind daher entweder (arbeits-) rechtlich oder einzelvertraglich geregelt.
Gesundheitskurse, Weiterbildungsmaßnahmen, …, alles, was darüber hinaus angeboten wird, wird gemacht, weil man sich davon einen angemessenen Return on Investment verspricht.
Es ist sehr anmaßend zu glauben, dass man sich das Recht herausnehmen kann, die Fürsorge für andere Erwachsene zu übernehmen – ohne einen professionellen Auftrag vom Nutznießer zu haben und ohne einen Qualifikationsnachweis!
Wenn vom Arbeitnehmer etwas erwartet wird, was über den Vertrag hinausgeht, muss dies positiv verkauft werden, indem dem Arbeitnehmer ein angemessener (nicht-)monetärer Vorteil in Aussicht gestellt wird.
- Plakativ: Man kann nicht wie selbstverständlich erwarten, dass man vier Äpfel kauft und vom Händler sechs bekommt. Genauso wenig kann man selbstverständlich erwarten, dass man 40 Stunden in der Woche einkauft und 60 Stunden bekommt!
Im Gegenzug kann ich als Arbeitnehmer nur das erwarten, was mir arbeitsrechtlich oder vertraglich zusteht. Wenn die Anforderungen realistisch formuliert sind und fair entlohnt werden, kann der Arbeitgeber erwarten, dass ich willens und in der Lage bin, meine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen.
Wenn der Arbeitgeber bei der Vertragsunterzeichnung ganz konkret sagt, was er genau erwartet, dann kann er im Gegenzug erwarten, dass ich dafür qualifiziert bin – und mich auch in Zukunft aus eigenem Antrieb qualifiziere.
Ich bin – wie jeder Erwachsene – für meine Gesundheit selbst verantwortlich. Ich bin für meine Motivation selbst verantwortlich. Ich bin für meine Weiterbildung selbst verantwortlich. Wenn ich möchte, dass mein Arbeitgeber mich dabei (finanziell) unterstützt, dann ist es meine Aufgabe, dies dem Arbeitgeber positiv zu verkaufen. Zum Beispiel, indem ich einen angemessenen Return on Investment in Aussicht stelle.
Wenn ich Überstunden mache, “investiere” ich in mich selbst. Sei es, um meine Aufstiegschancen zu erhöhen, sei es, um mein Entlassungsrisiko zu minimieren. Diese Investition ist meine souveräne, erwachsene Entscheidung.
Ersetzen Erwachsenen-Ich-Begegnungen Hierarchien oder Führungsfunktionen?
Jein.
Um gezielt über die Rollen einer leitenden Person sprechen zu können, verwende ich Platzhalterbegriffe wie “Manager” und “Führungskraft“.
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Die hierarchische Kakofonie, die deswegen entsteht, weil die Rollenerwartungen an die Leitenden in aller Regel nicht geklärt sind, zähle ich persönlich zu den signifikantesten Produktivitätsvernichtern in Unternehmen.
Im Online-Kurs “Leitende Tätigkeiten versus Hierarchien” werden wir uns daher detailliert mit den hierarchischen Rollen „Fachkraft“, „Unternehmer“, „Manager“ und „Führungskraft“ befassen.
Management- und Führungstätigkeiten sind für jedes Unternehmen unverzichtbar. Diese Tätigkeiten sind letztlich weitere interne Dienstleistungen, die den Fachkräften einer Organisation zur Unterstützung ihrer Arbeit zur Verfügung gestellt werden.
Diese Aktivitäten können mit Hierarchien verbunden sein, müssen es aber nicht. Beispiel zur Veranschaulichung: Angenommen, eine Familie plant ein großes Familienfest.
- Die Familie kann die Organisation des Festes dem Familienoberhaupt übertragen. In diesem Fall hätte sie das Thema hierarchisch gelöst.
- Sie kann aber auch das Familienmitglied mit der Organisation beauftragen, dem sie am ehesten zutraut, ein solches Fest zu organisieren. Dann hätte sie das Problem operativ gelöst.
Und nur weil unser Organisationstalent das Fest (gut) organisiert hat, wird es nicht automatisch zum Familienoberhaupt oder darf sich so verhalten, oder?!
Die A.D.L.E.R.-Methode
Ich bin davon überzeugt, dass eine Haltungsänderung weg von der Eltern-Ich-Kind-Ich-Begegnung hin zur Erwachsenen-Ich-Begegnung die Voraussetzung für jede nachhaltige Veränderung im Unternehmen ist.
Ein wichtiger Teil des Erfolgs meiner Arbeit besteht darin, dass ich Wert darauf lege, dass sich die kritische Masse der Belegschaft – Vorgesetzte und Mitarbeiter gleichermaßen – nach und nach in ihrem Erwachsenen-Ich begegnet.
Der Einzelne in der Gemeinschaft erkennt seinen eigenen Beitrag zur aktuellen Situation und bekommt Alternativen aufgezeigt – ohne vorgeführt zu werden oder sich “auf die Couch legen” zu müssen!
Übrigens: Wenn Sie sich für Faktor Mensch-Themen interessieren, darf ich Sie an dieser Stelle auf meine Akademie-Angebote aufmerksam machen: