Wie entsteht eine offene Streitkultur in einem Unternehmen und kann man die Vorteile der Anonymität für die Etablierung und Optimierung einer Streitkultur nutzen?
Wie etabliert man eine offene und engagierte Streitkultur in einem Unternehmen? So gefragt, lautet die kurze Antwort: gar nicht! Denn das ist nichts was man durch Prozessschritte und Anweisungen zielgerichtet herbeiführen kann.
Eine offene Streitkultur ist vielmehr eine innere Haltung, die vorhanden ist – oder eben auch nicht. Wie bei allen anderen Verhaltensänderungen Ihrer Mitarbeiter auch, die Bereitschaft für eine Änderung kann nur von innen kommen.
Wikipedia: »Streitkultur zu besitzen bedeutet: mit Worten und Medien den eigenen Standpunkt vertreten zu können, ohne dem Anderen abzusprechen, dass auch er einen abweichenden Standpunkt besitzt und besitzen darf. Streitkultur schließt ferner die Überzeugung ein, dass der Streit grundsätzlich Positives bzw. Bedeutendes hervorbringen kann, da er alte Normen und Fakten infrage stellt und nach der Möglichkeit von Alternativen Ausschau hält, unabhängig davon wie nützlich oder angemessen das Bewährte auch ist.«
https://de.wikipedia.org/wiki/Streitkultur
Erschwerend kommt hinzu, dass wir hierzulande typischerweise nicht in dieser Kultur aufwachsen. Als Erwachsene im Berufsleben sind wir somit fast alle zunächst reine Amateure.
Was veranlasst einen Mitarbeiter dazu, seine Meinung freiwillig und konstruktiv einzubringen?
Damit verbunden sind zwei Aspekte:
- Will ich überhaupt meine Meinung offen sagen und, falls ja,
- Wie mache ich das?
Ich fange mit der letzten Frage an:
Nach welchen Spielregeln findet eine Diskussion zwischen zwei Menschen statt?
Welches Beispiel für das Gegenteil einer offenen Streitkultur steht, können wir jeden Tag überall in Firmen, in Talkshows oder in politischen Debatten beobachten und studieren:
Nicht (wohlwollend) auf die Argumente des Gegenübers eingehen, keine Brücke bauen, rechthaberisch die eigene Meinung äußern und darauf durch Wiederholungen beharren, sich sarkastisch über die andere Person oder ihre Meinung oder ihre Qualifikation lustig machen, …
Ich kann nur wiederholen: Als Erwachsene im Berufsleben sind wir in dieser Frage fast alle Amateure. Das bedeutet aber nicht, dass wir stehenbleiben müssen. Wir können lösungsorientierte, empathische oder andere hilfreiche Kommunikationstechniken erlernen und diese solange üben, bis sie sitzen.
Was veranlasst uns dazu, uns überhaupt auf eine Diskussion einzulassen?
Diese Frage hängt wiederum von zwei Aspekten ab, die jeder von uns bewusst oder unbewusst für sich beantwortet:
- Wenn ich das Bedürfnis hätte, etwas zu sagen, in wie weit müsste ich Unannehmlichkeiten befürchten, wenn ich es täte?
- Wenn ich kein Bedürfnis habe, etwas zu sagen, gäbe es einen Vorteil für mich, meine Meinung trotzdem aktiv einzubringen?
Die Antwort basiert ein Stück weit auf unserem Temperament. Aber auch auf den Rollenerwartungen, die an uns gerichtet sind und auf unsere Erfahrungen, die wir machen, nachdem wir uns getraut und unsere Meinung eingebracht haben.
Genau hierauf haben Sie als Vorgesetzter den größten Einfluss. Ihre Vorbildfunktion kann man nicht genug herausstellen.
Sie selbst legen nämlich die Messlatte aufgrund Ihrer Rollenerwartung an sich selbst und an die Mitarbeiter fest. Und es sind speziell Ihre Reaktionen, die entweder Ihre Mitarbeiter ermutigen werden, sich einzubringen oder lieber den Mund zu halten.
Neulich sagte ein Geschäftsführer zu mir: »Es ist furchtbar! Ich bin von Ja-Sagern umgeben. Es ist sehr schwer, gute Leute zu finden.« Es hat seine Zeit gebraucht, bis die Information zu ihm durchdrang, dass der Umstand, den er beanstandet, höchst wahrscheinlich eine unmittelbare Folge seines eigenen Habitus ist!
Denn wie verhält er sich für gewöhnlich, wenn er mit seinen Mitarbeitern zusammensitzt, um zu kommunizieren? Er hält gerne Thronreden! Er stellt rein rhetorische Fragen und seine Antennen sind nicht auf Empfang bzw. Zuhören eingestellt. Der gesunde Menschenverstand des Zuhörers signalisiert zweifelsfrei: Er ist nicht interessiert an einer Meinung. Halt lieber den Mund!
Wer sich in solchen Situationen trotzdem zu Wort meldet, ist z. B. der Mitarbeiter, der aufgrund seines Temperaments auf Kampf eingestellt ist. Das Motiv ist jedoch sehr entscheidend, denn wenn es ihm dabei z. B. um Siegen geht, dann ist sein Vorgehen nur bedingt dafür geeignet, Probleme zu überwinden und gemeinsame Lösungen zu finden.
Offene Streitkultur: Anonymität als Wegbereiter
Die Anonymität kann man m. E. gut nutzen, um zumindest den Mitarbeitern eine Plattform zu geben, die ein Bedürfnis haben, etwas zu sagen, aber befürchten, dass sie vielleicht Unannehmlichkeiten bekämen, wenn sie es täten.
Erleben die Mitarbeiter anschließend, dass die Vorgesetzten konstruktiv und offen mit Vorschlägen und Kritik umgehen können und hieraus etwas Gutes entsteht, dann erhöht das die Bereitschaft ungemein, künftig Themen sogar offen anzusprechen.
In dieser Frage ist noch viel Raum für kreative Lösungen vorhanden. Denn es fällt auf, dass die Angst, etwas Dummes zu sagen und sich eine Blöße zu geben, viele Mitarbeiter davor abhält,
- Verbesserungsvorschläge einzureichen,
- sich Gedanken über Produktinnovationen zu machen oder
- einem Vorgesetzten davor zu warnen, ins offene Messer zu laufen.
Anonyme Feedbacks an Vorgesetzte
Viele Vorgesetzte hätten wohl eine Heidenangst vor einem solchen Schritt. Die Einführung setzt ja auch ein Stück weit die Schwerkraft außer Kraft: Denn Feedbacks fallen für gewöhnlich von oben nach unten!
Wann immer es opportun erschien, habe ich mich in der Vergangenheit freiwillig von meinen Mitarbeitern beurteilen lassen.
Und ich kann Ihnen versichern: Es lohnt sich und die meisten Befürchtungen sind unbegründet. Denn Mitarbeiter sind fairer und betrachten Themen differenzierter als man zunächst vielleicht meinen würde.
Daher möchte ich Ihnen zu einer Einführung raten, denn erst wenn Sie wissen, womit Sie es wirklich zutun haben, können Sie auch etwas dagegen unternehmen. Denken Sie aber daran, Ihren Betriebsrat rechtzeitig einzubinden. Er wird sicher vorher die Spielregeln genauestens mit Ihnen besprechen wollen.
Gerne berate und begleite ich Sie bei diesem Schritt. Einen Feedback-Bogen – speziell konzipiert für die vielschichtige Rolle eines leitenden Angestellten – stelle ich Ihnen gerne bei Bedarf zur Verfügung.
Wie steht es in Ihrem Unternehmen mit der Streitkultur? Setzen Sie Anonymität gezielt ein und welche Erfahrungen haben Sie bis dato gesammelt?
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3 Kommentare zu „Eine offene Streitkultur in Unternehmen etablieren“
Veränderungen und Umorganisation in einem Betrieb werden von Mitarbeitern mehr gefürchtet als eine schlechte Organisation, zumal immer manche klar umrissene Aufgaben haben und von der schlechten Organisation nicht betroffen sind.
Die Bewertungen werden immer die Furcht von Veränderungen wiederspiegeln und nicht hart ausfallen, wenn das Sozialverhalten stimmt.
Nicht die Unternehmen haben eine Streitkultur sondern einzelne Vorgesetzte und Mitarbeiter.
Eine Feed-back Aktion fördert selten eine fehlende Streitkultur.
Der eine Vorgesetzte möchte, dass seine Mitarbeiter sich von seiner Sekretärin einen Termin geben und die Mitarbeiter hören oft von ihr: ” Herr xy möchte derzeit nicht gestört werden”. Wer ihn aber versucht auf dem Gang oder auf dem Parkplatz abzupassen, spürt seine Ablehnung gegen solch einen “Überfall”.
Der andere Vorgesetze hat “immer eine offene Tür” und in seinem Zimmer stehen stets eine Traube von Mitarbeitern herum, die bestenfalls über Banatitäten sprechen.
Auch wenn beide sicherlich nicht eine produktive Streitkultur pflegen, dürfte der Zweite bei einem anonymen Feed-back Fragespiel wesentlich besser abschneiden?
Bei den Mitarbeitern ist auch oft kein Bedürfnis nach einer Streikultur vorhanden.
Der eine ist ein eingefleischter Bedenkenträger, weil er gelernt hat, dass Bedenkenträger für Vorgesetzte und Kollegen schwierig erscheinen, und allein dadurch weniger für Hauruck-Aktionen herangezogen werden.
“Bevor wir es mit Herrn A diskutieren machen wir es gleich selbst” heißt es, und der A hat zwar oft Konflikte aber im Gegensatz zu den anderen pünktlich Feierabend.
Der Zweite sieht den Beruf als Gelderwerb an, produktiv und kreativ wird er erst in seiner Freizeit.
Er hat gelernt, wer einen Verbesserungsvorschlag vorträgt, muss er ihn auch neben seinem Tagespensum auch ausarbeiten und zuletzt wird er noch von dem Bedenkenträger kritisiert.
Der Dritte sieht sich in der Talkshow und möchte sich mit allen im Artikel beschriebenen Methoden die nur in Szene setzen und den Platzhirsch spielen.
Warum sollten die Mitrabeiter und Vorgesetzte ihr Verhalten ändern, denn es hat sich aus ihrer Sicht bewährt?
Beispielhaft: Sie als Mitarbeiter bringen im Feedback zum Ausdruck: »Sein vermeintlich positives Sozialverhalten habe ich durchschaut und bewerte es daher nicht als gut. Und überhaupt: Anstatt mit banalen Gesprächen seine Zeit zu vergeuden, sollte er sich lieber um eine bessere Organisation der Abteilung kümmern.«
Ein anderer Mitarbeiter bringt zum Ausdruck: »Sein Sozialverhalten ist echt vorbildlich, denn er hat immer ein offenes Ohr für alle. Aber die Organisation der Abteilung lässt leider sehr zu wünschen übrig«.
Aus den vielen Feedbacks schließt der Chef: »OK, dass mein Sozialverhalten bei manchen gut ankommt und bei manchen nicht, war zu erwarten. Damit kann ich gut leben. Aber dass so viele meine Organisationsfähigkeit kritisieren, trifft mich schon, denn ich wollte ihnen eigentlich Raum zur Selbstentfaltung geben. Ich sollte das bei nächster Gelegenheit thematisieren«.