Vergleicht man das virtuelle Verhalten der Menschen mit ihrem realen Verhalten, so stellt man fest, dass sie sich oft stark unterscheiden. Und eines haben sie gemeinsam: Es fehlt eine Streitkultur – auch in Unternehmen!
Im Zusammenhang mit Anonymität im Netz werden üblicherweise die negativen Aspekte beleuchtet, wie z. B. das Internet-Troll-Verhalten. Der Tenor der meisten Expertendiskussionen zu diesem Thema läuft nach meiner Wahrnehmung darauf hinaus, dass Menschen sich aufgrund der Anonymität verstellen und in extreme Rollen schlüpfen.
Ich bin nicht überzeugt, dass diese Schlussfolgerung stimmt. Ich nehme vielmehr an, dass vermutlich das Gegenteil der Fall ist: Die Anonymität zeigt das (möglicherweise überzeichnete) wahre Ich und die wahren Gedanken und Bedürfnisse! Und das sehe ich als durchaus positiv an: Man weiß somit, mit welcher Hürde man es wirklich zutun hat.
Lässt man beispielsweise das beobachtbare Verhalten der Menschen hierzulande auf sich wirken, dann entsteht das Bild eines angepassten Volkes, das sich gerne in Strukturen und Regeln fügt und offensichtlich im Großen und Ganzen mit allem zufrieden ist: Die Anzahl von Demonstrationen und Demonstranten sind überschaubar und, nicht nur dass man selbst nicht bei Rot die Ampel passiert, oder den Rasen-betreten-verboten-Rasen betritt, man maßregelt sogar die Anderen, die gegen diese Regeln verstoßen wollen.
Lässt man hingegen die anonymen Diskussionen im Netz auf sich wirken, entsteht ein ganz anderes Bild meist mit diesen vier Zutaten:
- Das Glas ist grundsätzlich halb leer,
- der Ausblick grundsätzlich düster und man ist sich daher einig, dass das restliche Wasser auch bald verdunsten wird,
- man ist alldem machtlos ausgeliefert und hat keinen Einfluss auf das eigene Schicksal und, last, not least,
- Schuld sind grundsätzlich die anderen – vor allem “die da oben” –, die nichts dagegen unternehmen.
Die Diskussionen sind somit geprägt von einer tief sitzenden Ablehnung von Regeln und Vorschriften, die nicht so ausgefallen sind, wie man sie gerne gehabt hätte, und von denen, die die Vorschriften erlassen und durchsetzen: von Politikern bis Chefs. Ferner gesteht man in Diskussionen dem Anderen das Recht nicht zu, dass er einen abweichenden Standpunkt besitzen darf. Kurz: Es fehlt – wie im realen Leben auch – eine Streitkultur!
Wikipedia: Streitkultur zu besitzen bedeutet: mit Worten und Medien den eigenen Standpunkt vertreten zu können, ohne dem Anderen abzusprechen, dass auch er einen abweichenden Standpunkt besitzt und besitzen darf. Streitkultur schließt ferner die Überzeugung ein, dass der Streit grundsätzlich Positives bzw. Bedeutendes hervorbringen kann, da er alte Normen und Fakten in Frage stellt und nach der Möglichkeit von Alternativen Ausschau hält, unabhängig davon wie nützlich oder angemessen das Bewährte auch ist.
https://de.wikipedia.org/wiki/Streitkultur
Am Rande erwähnt: Interessanterweise scheint es in dieser Frage keine großen Unterschiede zwischen einem Bildzeitungs- oder einem z. B. Spiegel-Leser zu geben. Letztere besitzen lediglich im Durchschnitt einen größeren Wortschatz und können eloquenter die obigen vier Punkte zum Ausdruck bringen.
Streitkultur in Unternehmen: Kennen Sie die wirkliche Meinung Ihrer Mitarbeiter?
Eben diese Frage, was wahr ist und was lediglich vorgezeigt wird, ist m. E. sehr entscheidend für den Unternehmensalltag. Sie stellt sich möglicherweise bereits in Ihrer nächsten Sitzung, wenn Sie Ihre künftige Strategie oder das anstehende Projekt erklären und dabei in nickenden Gesichtern um sich herum schauen! Kann es sein, dass Sie eben dieses optische Signal als eine Unterstützung und Befürwortung Ihrer Idee auslegen und (deswegen) direkt zur Umsetzung übergehen? Und wie können Sie sicher sein, dass das die Wahrheit ist?
Für dieses Thema wurde ich erst kürzlich wieder sensibilisiert, als ich an Netzwerktreffen von ausländischen Managern, die von ihren Firmen für eine befristete Zeit nach Deutschland versetzt sind, teilgenommen habe. In unterschiedlichen Runden kamen ihre Erfahrungen und Eindrücke in Deutschland zur Sprache. Die Bandbreite ist groß:
Von niederländischen Managern, die im eigenen Land auf eine fest etablierte Streitkultur in Unternehmen zurückblicken und sich daher über das feige und verlogene Verhalten in deutschen Firmen wundern, bis hin zu asiatischen Managern, die das aggressive und rechthaberische Verhalten als auffällig und typisch deutsch wahrnehmen.
In der Tat können das Denken und das Verhalten in deutschen Firmen stark voneinander abweichen: In kleinen Kreisen hört man von der Mehrheit die Parole »Das können sie mit uns nicht machen und ich werde auf den Tisch hauen«. Und eine Minderheit in dieser Runde versucht, das Bild zu relativieren und zu beschwichtigen (und fällt mit diesem Verhalten negativ bei den Kollegen auf) …
… und in Kontrast hierzu bleibt in der anschließenden offiziellen Sitzung bzw. Veranstaltung die Mehrheit schweigsam und behält die obige Meinung für sich und eine Minderheit macht auf die Missstände aufmerksam (und fällt mit diesem Verhalten negativ beim Vorgesetzten auf).
Die wahren Ursachen einer aktuellen Störung liegen häufig im Verborgenen
Für den Erfolg meiner Arbeit als Ihr Unternehmer-Sparringspartner sind die Meinungen und Einschätzungen der Mitarbeiter daher von unschätzbarem Wert. Meine Arbeitsweise ist darauf ausgerichtet, die Meinungen der betroffenen Mitarbeiter und ihre Sicht der Dinge ernst zu nehmen und sie zu motivieren, sich mitzuteilen.
Die Meinungen der Mitarbeiter mögen zwar hier und da überzeichnet oder mit egoistischen Motiven vermengt sein, aber sie liefern nichtsdestotrotz die nötigen Hinweise, um den wahren Ursachen einer Störung auf den Grund zu gehen. Die Hierarchie spielt dabei keine Rolle und der entscheidende Hinweis kann durchaus von dem Auszubildenden der Abteilung kommen.
Wie kommt eigentlich man eigentlich zu einer Streitkultur in Unternehmen?
Das ist ein spannendes Thema für einen Folgebeitrag.
1 Kommentar zu „Folge der fehlenden Streitkultur in Unternehmen“
“…nicht nur dass man selbst nicht bei Rot die Ampel passiert, oder den „Rasen-betreten-verboten“-Rasen betritt, man maßregelt sogar die Anderen, die gegen diese Regeln verstoßen wollen.
Lässt man hingegen die anonymen Diskussionen im Netz auf sich wirken, entsteht ein ganz anderes Bild meist mit diesen vier Zutaten: 1) Das Glas ist..”
Ihre Auflistung ist für politische Diskussionen im Netz sicherlich richtig. Für alle anderen Bereiche kommen die „Rasen-betreten-verboten“ Vertreter wieder ins Spiel.
Der Erste weist darauf hin, dass diese “Rückleuschte” nicht TÜV-fähig wäre und der zweite korrigiert die Schreibweise der Rückleuchte. Der widerum von den anderen als “Lehrerzimmer-Troll” abgekanzelt wird.
Das eigentliche Thema wird zur Seite gelegt und man streitet sich um alle möglichen Nebensächlichkeiten, bis schließlich eine selbsternannte Autoritätsperson als “Moderator” zur Strafe die Beiträge, die ihm nicht genehm sind, löscht.
Das lebenswichtige Thema der Leuchten wird sofort wieder unter einem anderen Namen neu veröffentlicht und das Spiel wird fortgesetzt.
Auch bei dem zweiten Versuch geht es genauso wenig um die Leuchte.