In den sozialen Medien wird immer wieder betont, wie wichtig Authentizität ist. Doch wie realistisch ist diese Erwartung an sich selbst und an andere, wenn man bedenkt, dass wir in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedliche Personas haben?
Mit Social Media beschäftige ich mich schon ziemlich lange. Ein Xing- oder Facebook-Profil habe ich zum Beispiel seit 2006. Und genauso lange beobachte ich, worüber sich die Leute in den sozialen Medien aufregen oder streiten.
Offline oder online, viele Streitigkeiten entstehen interessanterweise, weil wir Menschen eine verzerrte Wahrnehmung von menschlichem Verhalten haben: Die Maßstäbe, die wir an das Verhalten anderer anlegen, sind nicht realistisch.
Was bedeutet Authentizität?
Ein gutes Beispiel dafür ist die Erwartung an sich selbst und an andere, authentisch zu sein. „Authentizität“ ist ein Begriff, der in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Es geht darum, aufrichtig und wahrhaftig zu sein.
Authentizität bedeutet, sich offen und ehrlich zu äußern, unabhängig von der Reaktion anderer. Sich nicht darum zu kümmern, was andere denken oder sagen. Nicht zu versuchen, sich in eine bestimmte Kategorie oder Gruppe einzuordnen, sondern sich in erster Linie von seinen eigenen Gefühlen und Gedanken leiten zu lassen.
Soweit die Theorie. Nun zur Realität.
Schauen Sie sich um: Nicht nur, dass (fast) alle Menschen eine Maske tragen, es ist auch nicht ungewöhnlich, dass sie in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedliche „Masken“ tragen: ihre Personas.
Kennen Sie Ihre „Personas“?
Ein und dieselbe Person kann – plakativ formuliert –
- im Berufsalltag als stets korrekter Erbsenzähler,
- unter Freunden als stets für gute Laune sorgender Schelm,
- zu Hause als schnell aufbrausender Tyrann und
- und im Skiurlaub als jemand, der gerne mal „die Sau raus lässt“, auftreten.
Ich bin sicher: Außerirdische, die menschliches Verhalten empirisch untersuchen würden, kämen zu dem Schluss: Es ist typisch für die Spezies Mensch, mehrere Personas zu haben.
Wenn wir uns diese menschliche Eigenschaft vor Augen führen, stellt sich die Frage: Was genau meinen wir eigentlich, wenn wir von uns selbst und von anderen „Authentizität“ erwarten?
In den sozialen Medien wird genau dies immer wieder thematisiert. Viele Menschen betonen, wie wichtig es für sie ist, authentisch zu sein. Und Online-Marketer werden nicht müde, in ihren Werbebotschaften die Bedeutung von Authentizität für den Geschäftserfolg zu betonen.
Der Haken an der Sache: Für viele führt der Weg zu mehr Authentizität über die Schaffung einer neuen Persona!
Nach dem Motto: So und so sollte sich eine Person verhalten, die sich „authentisch“ verhält.
Ist Authentizität immer eine positive Eigenschaft?
Social Media Influencer prägen in erster Linie das Bild dieser Persona, mit der ausschließlich positive Eigenschaften assoziiert werden. Die üblichen Zutaten scheinen gegeben: Man hat ein lässig-cooles Auftreten, man duzt andere ungefragt, man drückt sich locker bis flapsig aus und teilt Privates (und manchmal Intimes) über sich mit anderen.
Oder anders formuliert: Warum sagen Sie nicht zu einer sexistischen oder rassistischen Person: “Hören Sie auf, sich hier authentisch zu verhalten“! Oder: “Danke, dass Sie wenigstens authentisch sind“!
Andere gehen einen anderen Weg, um Authentizität zu demonstrieren: Sie lassen ihre verschiedenen Personas je nach Situation von der Leine. Plakativ:
- Sie tauschen sich zivilisiert und fachkundig aus, …
- … aber im nächsten Moment drehen sie durch und beschimpfen andersdenkende Diskussionsteilnehmer persönlich auf das Übelste, weil ihnen deren Meinung nicht gefällt.
Wenn man bedenkt, dass Menschen oft unterschiedliche Personas haben, scheint dies auf den ersten Blick eine gute Strategie zu sein. Doch der Schein trügt! Denn in jedem Lebensbereich treten wir typischerweise nur mit einer Persona auf.
Um das plakative Beispiel von oben aufzugreifen: Sie werden lange suchen müssen, um einen Kollegen zu finden, der während der Arbeitszeit im Büro sowohl korrekt Erbsen zählt als auch mit der Sau spielt, die er rausgelassen hat. Wer sich nicht an diese Spielregeln hält, sorgt bei seinen Mitmenschen für große Irritationen – mit möglicherweise verheerenden Folgen für sich selbst.
Unterschiedliche Personas: Schizophrenie oder Notwendigkeit?
Unterschiedliche Personas für unterschiedliche Lebensbereiche können für alle Beteiligten sehr vorteilhaft sein. Plakatives Beispiel:
Ein Dienstleister nimmt einen Auftrag von einer ausländisch aussehenden Person an. Dieser Umstand ist seiner Business-Persona völlig egal. Denn hier gilt: Hauptsache, der Kunde nervt nicht und zahlt pünktlich.
- Im privaten Umfeld fällt er jedoch durch rassistische Äußerungen über genau diese Personengruppe auf.
Ein Ausländer, der diesen Dienstleister beauftragt, weiß nicht, dass er damit möglicherweise einen Rassisten beauftragt. Postet dieser jedoch regelmäßig Texte mit rassistischem Inhalt, die der Ausländer bemerkt, kommt es definitiv nicht zu einem Auftrag.
- Nicht nur von diesem Kunden, sondern auch von allen anderen, die sich angesprochen fühlen.
- Und auch keine Aufträge von anderen (deutschen) Kunden, die mit dem Betroffenen sympathisieren.
- Kein Auftrag nicht nur an diese Fachkraft des Dienstleistungsunternehmens, sondern tendenziell auch an keine andere Fachkraft dieses Unternehmens.
Das ist ein Problem, das viele meiner Meinung nach völlig unterschätzen: In Social Media sehen alle gleichzeitig, was man tut: von den Kunden über die Kollegen bis hin zu den Nachbarn. Und viele andere, mit denen man gar nichts zu tun hat.
Der Punkt ist der: Ihr Social-Media-Profil wird von anderen – eher unbewusst – nur einer Lebensdomäne zugeordnet. Und Ihr Verhalten wird nach den Gepflogenheiten dieses Bereichs beurteilt:
- Wer Xing/LinkedIn als Business-Plattform betrachtet, wird sich oft über das Verhalten der Person ärgern, die ständig über Corona-Maßnahmen diskutieren möchte.
- Wer glaubt, auf Facebook mit Freunden und Familie verbunden zu sein, wird sich daran stören, dass ein Kontakt ständig Geschäftsangebote postet.
Und im Zweifelsfall gilt:
Jeder meint, sich das Recht herausnehmen zu dürfen, den Auftritt des anderen nicht nur zu bewerten, sondern gegebenenfalls auch öffentlich zu kommentieren. Das überfordert uns regelmäßig und wir geben es uns nicht einmal zu.
Ein aktuelles Beispiel zur Verdeutlichung der Problematik:
Einer meiner Social-Media-Kontakte ist der Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens. Über sein privates Umfeld weiß ich überhaupt nichts. In meinem Feed fällt er mir immer wieder auf, weil er kluge und durchdachte Kommentare zu Wirtschaftsthemen schreibt.
Kürzlich gab es jedoch einen Beitrag über Corona und die Äußerungen eines Politikers dazu. Offensichtlich emotional aufgewühlt kommentierte er diesen Beitrag sinngemäß mit den Worten: „Der Politiker sollte lieber seinen Geisteszustand untersuchen lassen, anstatt so einen Unsinn von sich zu geben“.
Daraufhin brach eine Welle der Empörung los. Ihm wurde Diffamierung, Verhetzung etc. vorgeworfen. Einige kommentierten, dass sie sein Profil angezeigt hätten.
Und natürlich wurde schnell ein Bezug zu seiner beruflichen Rolle als „Geschäftsführer“ hergestellt und Vermutungen über ihn in dieser Rolle angestellt. Das wiederum fand er nicht lustig und forderte die Angreifer auf, das Thema nicht zu wechseln.
Es geht mir bei diesem Beispiel weder um das Thema noch um die Ausdrucksweise. Vielmehr möchte ich mit diesem Beispiel darauf aufmerksam machen: Er hat sich in dieser Situation menschlich und emotional bewegt gezeigt. So wie er sich wahrscheinlich auch verhalten würde, wenn er unter Freunden wäre.
Fazit:
Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass eine Person in verschiedenen Situationen unterschiedliche Facetten ihrer Persönlichkeit zeigt. Das ist kein Zeichen von Unaufrichtigkeit oder mangelnder Authentizität.
Wir sind daher meines Erachtens gut beraten, Einfluss darauf zu nehmen, wie wir wahrgenommen werden wollen. Zum Beispiel, indem wir für uns grundsätzlich festlegen: Bin ich auf dieser Plattform geschäftlich, also gedanklich im Büro, oder privat, also gedanklich unter Freunden, unterwegs?